Living Spaces - Cyber Spaces

Manfred Wolff-Plottegg
Global Village International Symposium / Wien / 16/02/1997

Seit ungefähr 30 Jahren beschäftigte ich mich mit Architektur, bin praktizierender Architekt und als solcher behaupte ich von mir, daß ich mich mit dem, was Raum ist, auskenne, d.h. ich bin Raumexperte. Seit ungefähr 20 Jahren beschäftige ich mich auch mit dem Computer und dadurch hat die ganze Entwicklung der Raumtheorien für mich zusätzliche Facetten angenommen. Dazu muß ich kurz anmerken, daß ich den Computer in der Planung nicht zur Imitation verwende - d.h. ich verwende ihn nicht um Striche zu machen wie mit der Hand, wobei die Gedanken sozusagen vom Hirn aufs Papier kommen - sondern ich verwende den Computer als interaktives Gerät und bisweilen noch schärfer als generierendes Gerät, welches Architekturen generiert - d.h. was dabei herauskommt, das Ergebnis stammt dann eben nicht von mir, sondern vom Computer - es ist computergeneriert. Und natürlich beschäftige ich mich, seit das spruchreif und praktikabel geworden ist, auch mit allen Internet-Fragestellungen. Aus diesem Paket heraus behaupte ich auch, daß ich mich nicht nur im konventionellen, traditionellen, physikalischen Raum der traditionellen Architektur auskenne, sondern auch im virtuellen Raum der neuen Medien.

Bei allen meinen Raumgestaltungen gehe ich davon aus, daß das Environment, in welchem wir agieren, nicht eine eben vorhandene Erscheinungsform, schon gar nicht ein statisches Phänomen ist; aber auch nicht nur eine variable räumliche Auswirkung, eine Materialisation von dynamischen Systemen. Aus dem Systemverständnis der neuen Medien und der neuen Systemtheorien - im wesentlichen sind das die Fraktale Geometrie, die Chaos Theorie, die Fuzzy Logic, die Komplexitätstheorie - heraus ist mir klar, daß das Environment nicht mehr ausschließlich als Objekt, sondern als Agens verstanden werden kann; daß es sich ergo bei der Architektur, bei der Raumgestaltung nicht um Fragen von Objekt und Form, oder um Funktionen - wie oftmals vordergründig argumentiert wird - handelt, sondern um prozessuale Fragen. D.h. Umgebungen - seien es die gebauten oder die virtuellen Umgebungen - sind Abläufe, sie steuern und werden durch Algorithmen gesteuert.

In meinem Buch „Architektur Algorithmen“ 1) habe ich mit Peter Weibel einleitend die kulturgeschichtliche Entwicklung der Architektur aus Sicht des jeweiligen medialen Inputs analysiert. Das ist ein Einstiegspunkt zum Verständnis der heutigen Situation, zum Verständnis dessen, was heute mit virtuellem Raum bezeichnet wird und wie man dabei agieren könnte. Etwas Systematik diesbezüglich scheint besonders wichtig, weil ja ohnehin fast jeder vom Computer und Internet, vom virtuellen Raum und Cyberspace usw. daherredet, aber dafür nur schlechte Definitionen existieren. Das ist der Grund, warum es speziell auf diesem Gebiet, bei dieser neuen Auseinandersetzung viel Quacksalberei gibt. Ich bin da sehr vorsichtig geworden - ich glaube auch hier bei diesem Symposium gestern und heute schon gewisse Ungereimtheiten gehört zu haben.

Vorausschicken möchte ich, daß die Vorstellung von prozessualen Umgebungen, für mich die übliche Polarisierung zwischen „real life“ und „virtual life“ relativiert, weil es im Konzept von Algorithmen ebenso analoge wie digitale gibt. Um das zu erläutern, blende ich kurz etwas zurück:

Die traditionelle europäische Architektur/Theorie geht im wesentlichen von einem Ort, von einem Raum aus, von einem physischen Raum, von Materie/Material usw. und läßt sich vom Begriff „Der Mensch im Raum“ dominieren. Indem sie von der Einheit von Körper und Ort ausgeht arbeitet sie mit Identitäten 2) (vgl. Einheit von Körper, Raum und Zeit im altgriechischen Drama). Die Körperbezogenheit der Architektur ist sprichwörtlich - Elle, Fuß, bis zum Modulor von Corbusier, auch die Vorstellungen „Architektur - die dritte Haut“ oder „der Bau - der erweiterte Leib“ (R. Steiner) sind hier anzusiedeln. „Der Mensch ist das Maß“ - mit ausgebreiteten Gliedmaßen im Kreis, im Viereck - die Darstellung von Vitruv bzw. von Leonardo, auch heute noch Signet für „bio-Mensch-human“, sperrt aus meiner Sicht den Körper/Menschen in seine eigenen Grenzen, in seiner eingenen Geometrie ein.

Aus dem körperbezogenen Konzept folgt (spätestens seit dem Humanismus) im übertragenen Sinn: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“. Hans Arp meinte zu Max Ernst „Der Mensch ist das Maß aller Schneider“ und ich füge schnell ein: heute in der Computerwelt werden die Chips immer kleiner, immer schneller; die Information wird sozusagen auf ein Bit und zero time zusammengeschrumpft, d.h. es sind andere Maßstäbe, die wir heute haben - soferne man überhaupt noch von Maßstäben spricht.

Obwohl die klassische Architektur auf den Ort, den Raum und den Körper, Materie und Masse, auf Schwerkraft aufgebaut war, hat es immer die Tendenz gegeben, dem Gefängnis des Raumes zu entkommen.

Verfolgen wir z.B. die bauliche Entwicklung von Einfriedungen (Abgrenzungen), sehen wir, wie sich die Architektur entmaterialisiet: von den schweren, polygonalen Zyklopenmauern in Mykene, zu den gemauerten Einfriedungen, Burgmauern usw., später zum Lattenzaun (mit Zwischenraum ... hindurchzuschauen), zum Maschendraht, zum Stacheldraht, zum elektrischen Weidezaun; wir sehen in dieser Entwicklung eine Loslösung von der Material-Raumdefinition und diese führt schließlich zur elektronischen entmaterialisierten Überwachung, beim GPS (global positioning system), beim elektronischen Armband für „Strafgefangene“ oder beim implantierten Chip für Wildtiere usw. D.h. wir kommen von der materialisierten Raumdefinition zu einem entmaterialisierten System, von dem ortsgebundenen Material zu einer (dislozierten) Information.

Den Versuch dem Gefängnis des Raumes zu entkommen können wir - klarerweise - besonders deutlich in der Entwicklung der Fortbewegung beobachten, der eindeutige Änderungen im Verständnis des Raumes folgten. Durch die Entwicklung der Mobilität, Eisenbahn-Auto-Flugzeug, sind die Distanzen sprichwörtlich geschrumpft, der Raum ist nicht mehr homogen. Im 20. Jahrhundert wird durch die Einführung der telematischen Medien die klassische Raumvorstellung weiter destabilisiert; durch den Computer und speziell durch das Internet wird die Abhängigkeit, die Einheit von Raum-Köper-Ort (Anwesenheit) aufgehoben. Die Raumerfahrung im Cyberspace ist nicht mehr körperbedingt, so wie es einmal in der traditionellen Architektur gewesen ist, die Raumerfahrung im Cyberspace ist informationsbedingt.

Ein anderer Aspekt: Veronese hat in die reale Architektur von Palladio illusionistische Architektur, illusionistische Landschaften hineingemalt. Das ist ein Prototyp der Überlagerung, des Wechsels zwischen „real“ = körperhaft hier präsent = Palladio und „virtuell“ = Veronese. Peter Eisenman schreibt in seinem Buch „Aura und Exzeß“ 3): ... „Das elektronische Zeitalter stellt eine große Herausforderung an die Architektur dar, da jetzt die Wirklichkeit durch die Medien und durch Simulation bestimmt wird. Was wir sehen und wie wir sehen, wird durch die Medien radikal uneindeutig.“

Auch in der Geometrie erfahren wir ähnliches: bisher galt die Maxime der Eineindeutigkeit, Euklid ist homogen, ein Strich ist eine klare Trennung (bis hierher und nicht weiter); bei der Koch´schen Kurve (Fraktale Geometrie) ist es keineswegs klar, auf welcher Seite man sich befindet; Grenzen sind aufgelöst. War bisher die räumliche Perzeption von den Raumkanten geprägt 4) - hier gab es Regeln der Proportion, der Achsen, Skalen udgl. - ist die Wahrnehmung im Cyberspace, im Raum der flottierenden Daten/Zeichen an die Geschwindigkeit gebunden (Sausen, Zischen, in die Tiefe Abbiegen etc.) - was ich noch erörtern werde.

In der „lokalen“ Architektur ist nach wie vor die Definition durch Körperhaftigkeit und vor allem durch Formgebung dominant. Ich erinnere an die Debatte, die im Laufe der postmodernen Phase abgelaufen ist, ich denke daran, was und wie z.B. auf der Ringstraße hier in Wien gebaut wird. Auch die Streitfrage, wie hoch der Leseturm im Museumsquartier, das Hochhaus in Transdanubien sein darf, ist konventionellste Demonstration im Machtspiel der Körperhaftigkeit. Sehr deutlich wird dies auch in den Einrichtungshäusern, stellen Sie sich vor wie es bei Ikea, Kika usw. aussieht. Das ist sozusagen der Stand der Diskussion, was allgemein als Architektur, Innenarchitektur, Raumvorstellung usw. genommen wird.

Während der Großteil der Architekturscene sich wie eine globale „Altstadtsachverständigenkommission“ geriert, wird gleichzeitig dauernd von Cyberspace gesprochen. Es existieren offensichtlich zwei Welten nebeneinander: die komplett traditionelle Raumvorstellung, siehe Möbelhaus = Einrichtung = Biedermeierkasten usw. und daneben die Neuen Medien, der virtuelle Raum usw. Dabei ist festzustellen, daß die Architektur selbst an den Fragen der Elektronik, der neuen Systeme usw. komplett vorbeigeht - wie schon angemerkt - von der Ringstraße angefangen bis zu den Einrichtungshäusern. Und durch dieses retardierte Verhalten der Architektur leben wir mit beiden Phänomenen, noch im real space der traditionellen Architektur und schon mit dem virtual space der neuen Medien.

Bisher war die Architektur ein Derivat und wurde durch Konventionen zum Bedeutungsträger - dem Material wurde sozusagen eine Information umgehängt. Heute wissen wir, wir befinden uns in einem Netz von Sachverhalten, dessen Information den Raum bildet. Dabei wird Masse - nicht mehr wie beim Ziegelmassenbau noch zur Raumbildung - nur mehr für Geräte verwendet, die räumliche Informationen liefern. Wir sehen sehr deutlich die Abwendung von materiellen Sachverhalten, von gebauten Phänomenen und die Zuwendung zum Netz, zur Übertragung, die Abtrennung von einem materiellen Raum, von den Proportionen, von oben und unten, hinten und vorne, innen und außen usw. zu einem anderen Raumbegriff, zu anderen Raumvorstellungen 5).

Sehe und erlebe ich etwas, was gar nicht da ist, weil es irgendwo anders ist, befinde ich mich in einem Informationsraum, in einem Raum der Absenz, in der „Virtualität“ wie man so sagt. In der traditionellen Sehweise gibt es also die real life - natürliche Welt und zusätzlich noch die künstliche Welt, die virtuelle Realität. Und in einer avancierten Vorstellung dieser zwei Faktoren könnte man heute sagen, daß der physische Raum eigentlich nur mehr unsichtbarer wire frame ist, welcher sich durch gemappte Daten, Informationsflüsse „konkretisiert“; es werden nicht mehr Baumaterialien geschaufelt, sondern es werden Daten geschaufelt. Die Raumstruktur ist quasi ein Editor für Informationsdaten. In diesem Zusammenhang erinnere ich an die Installation von Ruth Schnell auf der Biennale, Venedig 1995. Aus heutiger Sicht können wir sagen, eine autonome Architektur ist nicht repräsentativ, sie ist nicht mehr stellvertretend für die Mächtigen (Kirche, Staat usw.), ist also nicht mehr darstellend / demonstrierend. Architektur ist heute Schnittstelle und Interface zur jeweils verbundenen Umwelt.

Wir können also feststellen, daß sich die Architektur im Laufe der Geschichte entmaterialisiert hat. Das ist eine systemischer Access (nicht formaler, nicht ökonomischer) zum Minimalismus, zu Glaskonstruktionen, zu Stahlkonstruktionen usw., zum Reduktionismus oder der Leistungsform wie der Statiker sagen würde. Architektur entfernt sich also vom Material, vom Körper und damit vom menschlichen Maß. Die klassische, analoge Architektur hat eine anthropozentrische Sehweise der Präsenz und die digitale Architektur ist ein algorithmisches System der Absenz. Die Architektur vertechnifiziert, entkörpert sich, verflüchtigt sich überhaupt.

Daraus ist für mich eine Konsequenz ziemlich naheliegend: der Umgang mit dem Raum - egal ob real space oder virtual space - kann nicht mehr nach den bisher bekannten ua. anthropozentrischen Regeln erfolgen. „Aus dem Bauch heraus“ - wie man so gesagt hat - ist überholt. Die Raumgestaltung, die Raumbildung erfolgt nicht mehr aufgrund von individuellen Wunschbildern (z.B. Gemütlichkeit für die Wohnung), von (persönlichem) Geschmack, von Identitäten; mit diesen Kategorien kann im elektronischen Ambiente nicht mehr gearbeitet werden, denn diese Attitüden versteht der Computer nicht. Deshalb ist auch das Instrumentarium der Architektur im Umbruch - Form/Funktion/Konstruktion wird vom Mapping/Morphing/Scaling abgelöst.

Aus dieser Argumentation heraus sehe ich im Ankündigungstext zu diesem Symposium wie sich retardierte nicht mehr aktuelle Vorstellungen einschleichen, wie mit dem elektronischen Raum zwar kokketiert wird, aber im Grunde genommen doch nur das traditionelle Nest gesucht wird. Ich zitiere: „Globale Orte (!!!) = Überschrift zur Schlußveranstaltung) ... Die neue Herausforderung ist es, einen Raum zu konzipieren ... der uns gleichzeitig das Gefühl (!!!) gibt ... mit einem Ort verbunden zu sein ...“

1.) Unabhängig davon ob der „globale Orte“ eine contradictio in se ist: bei der Thematik des Symposiums noch von Ort zu sprechen, ist geradezu absurd, das übersieht Spezifica des elektronischen Raumes und vollkommen den aktuellen Stand der avancierten Architektur Diskussion 6).
2.) ... „einen Raum zu konzipieren“ erinnert bestenfalls an ein Anfängerseminar für Architekturstudenten (vgl. Bauhaus). Diese analog / inhaltliche Diktion steht im Widerspruch zu interaktiver, generierter, autokatalytischer Architektur.
3.) ... „Raum, der das Gefühl gibt“ (!!! !!! !!!): es wird sozusagen noch an das persönliche Gefühl appelliert: Architektur als Willenskundgebung quasi als Expression.

Hier werden also inhaltliche Attitüden verwendet, es wird mit traditionellen Diktionen und frommen Wünschen agiert, obwohl wir wissen, daß sie im digitalen, vernetzten Environment überholt sind - der Computer und die digitale Welt verstehen nichts davon. Nocheinmal: im digitalen Environment geht es weder um Gefühle noch um den Ort, sondern um Algorithmen und Dislokation.

Christian Kühn hat in Kenntnis meiner Projekte und Theorien vorgeschlagen, ich solle zum Thema „Living space - Cyberspace“ referieren und dieser Vorschlag ermöglicht mir noch genauer zu differenzieren: Living space hat ja - wenn man es salopp übersetzt - irgendwas mit dem Wohnraum zu tun. Ich glaube, daß in einer Wohnung alles das subsumiert ist, was eine Architektur/Kultur ist, insoferne ist ein Wohnzimmer ein wahrer Seismograph. Ob es uns recht ist oder nicht - in den Wohnzimmern/Möbelhäusern können wir sozusagen die kulturelle Essenz ablesen, die in Österreich derzeit zum Thema Wohnraum existiert und - ob Architekturexperte oder nicht - jeder kennt sich dabei sehr gut aus, weil wir ja täglich darin leben.

Zu unserer heutigen Fragestellung möchte ich Wohnung aber nicht als Erscheinungsform, sondern als System analysieren: die Wohnung selbst ist Ort (zuhause, bei sich etc.) und in der Wohnung hat alles einen bestimmten Ort. Wird aufgeräumt, so wird alles genau an seinem Ort hingestellt; Wird abgestaubt, so wird etwas aufgehoben, abgestaubt und wieder zurückgestellt; D.h. wir haben genau festgelegte Orte in der Wohnung; alles an seinem Ort = Ordnungssinn, das sind sehr dominante Prägungen, „echte Werte“. Selbst Möbel - obwohl sie mobil sein sollten - werden durch die Ordnung immer an einem bestimmten Ort geradezu festgenagelt. Hier erkennt man auch den Schwachsinn des alten Slogans „Bauen heißt ordnen“. Wir können an der Wohnung die vorhin erörterten Architektur-Regeln feststellen, die hier genauso penetrant sind wie im Diskurs der klassischen Architektur: Ort, Körper, Maß, Identität, Referenz, persönlicher Geschmack, Zweckmäßigkeit, Gewohnheit und Wunschbild.

Das Kennzeichen vom Cyberspace ist aber die Emanzipation von diesen Kategorien, die Loslösung vom Ort, etc., die Auflösung der historischen Erinnerungen und Bedeutungen und damit einhergehend die Auflösung von Grenzen. Dazu hat in den vergangenen Jahren auch die Dekonstruktion wesentliche Beiträge erarbeitet. Der neue Diskurs der nichtklassischen Architektur baut auf die Ortlosigkeit. Das Derivative der analogen Architektur wird durch das Generierte der digitalen Architektur ersetzt. Im Zusammenhang mit Wohnen könnte man sagen, daß anstelle der starren Möbel, im Cyberspace nun tatsächlich erstmals mobile Elemente auftreten, nämlich frei flottierenden Daten, immateriellen Zeichen in dynamischen Systemen.

Wir leben real life, noch im tatsächlichen Wohnzimmer, doch mischen sich Phänomene des digitalen Raumes, des Cyberspace immer häufiger ein. Nun werden mißverständliche Fragen gestellt, u.a.: - wie ändert sich der Wohnraum, wenn wir mit digitalen Geräten arbeiten? oder umgekehrt: - wie wohne ich im digitalen Raum? Die üblichen Vorstellungen und Vorschläge dazu sind geradezu abstrus. Die Entwicklung des Autos hat nicht dazu geführt, daß sich das Pferdefuhrwerk geändert hat, das Medium Fernsehen hat nicht das Medium Buch geändert. Wir sehen deutlich, daß eine neue Technologie auftritt, die aber noch nicht unbedingt Rückwirkungen auf das Alte haben muß. Das Neue trägt nur bei retardierter Verwendung (z.B. das Internet wie ein Lexikon verwendet) die Erbinformationen des Vorläufers trägt mit sich. Das Spezifische eines Mediums ist, eigene Algorithmen und somit eigene Limesbilder zu haben, worüber sich inhaltliche, gesamtheitliche Konzepte hinwegsetzen wollen.

Ich könnte mir vorstellen: - je mehr wir uns im Cyberspace befinden - um so weniger wichtig wird der konventionelle Raum sein. Je mehr ich mich im Cyberspace bewege, um so weniger wichtig wird mir z.B. das Erbstück Biedermeierkasten sein (ich tausche sofort gegen einen starken Computer). Natürlich gibt es auch die Gegenbewegung dazu, daß z.B. ein Computer mit Holzgehäuse und Holztastatur versehen wird - zur besseren Einfügung in das Wohnmilieu. Das klingt natürlich lächerlich, in gleicher Weise werden aber unsere analogen Raumvorstellungen, sozusagen als begriffliche Krücken in den digitalen Raum verschoben: die Begriffe „homepage“ oder „site“ im Internet sind absurd, weil wir ja genau wissen, daß es im Netz kein „zuhause“, keinen Ort mehr gibt. Von verschiedenen Informationsebenen zu sprechen ist ebenso eine Begriffsverschiebung. Wird aber eine „Informationsebene“ des digitalen Raumes als Geschoßdecke rück-interpretiert, quasi unter dem Titel „Auswirkung des digitalen Raumes auf unsere gebaute Umwelt“ wird es endgültig banal. Im Cyberspace haben wir eben keine Ebene oder keine konventionelle Dreidimensionalität - wir haben dort x-fache, beliebig viele Dimensionen, wie wir es in der fraktalen Geometrie gelernt haben, usw.

Eine weitere essentielle Änderung, die auf uns zukommt, möchte ich jetzt an einem anderen Zitat aus der Symposiumsbroschüre erläutern. Da steht nämlich: „Architekten sind eingeladen, ihre Ideen für den Schnittpunkt (...) zu präsentieren“ (...) „konkrete Bilder von einem gestaltbaren Lebensraum“.

Dieser Aspekt betrifft nochmals den Architekten als Person. Daß wir unsere (!!!) Ideen formulieren sollten ist wirklich das traditionellste und konventionellste Vorgehen, wofür man eigentlich allen Architekten die Lizenz entziehen sollte. Der Architekt als Kreator, der glaubt alles machen zu können = möchtegern Demiurg. Das traditionelle personenbezogene Sebstverständnis des Architekten, der vorgibt aus sich heraus zu agieren, löst sich jetzt im elektronischen Zeitalter auf. Wir wissen, daß wir das Wetter, daß wir Wirtschaftsentwicklungen usw. nicht mit einem Fingerschnippen ändern können (Unsteuerbarkeit von Systemen). Es kann niemand sagen, „ich habe das Internet gestaltet“, weil das Internet ein System ist, das sich mehr oder weniger autokatalytisch generiert hat. Und jetzt wird wie eh und je nach einer Idee gefragt. Da wird man anders vorgehen müssen. D.h. wir könnten nur versuchen einen Modus zu finden, mit dem wir uns in unvorhersehbaren Systemen zurechtzufinden. Soferne unser Lebensraum immer mehr zu einem unvorhersehbaren System wird, ist es absurd von Gestaltung zu sprechen; andererseits wirft dies genau jenen kritischen Punkt der heutigen Architektur auf: hat sie Systemeigenschaften oder ist sie als „konkretes Bild“ ein wenig formale Beigabe, mit der man vermeintlich glaubt den Lebensraum zu gestalten.

Die Behauptung, man könnte etwas gestalten, ist selbst in der traditionellen Architektur äußerst fragwürdig. Behauptet jemand, er hätte sein Wohnzimmer oder sein Einfamilienhaus selbst gestaltet, dem kann ich sehr, sehr schnell nachweisen, daß das nicht seine individuelle, persönliche Gestaltung gewesen ist, sondern daß das eigentlich nur Systemäußerungen sind, wie eben schlechthin ein Wohnzimmer/Einfamilienhaus ausschaut. Das sind die sogenannten Limes-Bilder.

Wenn wir jetzt vom Übergang der traditionellen Architektur in eine digitale Architektur sprechen, möchte ich zu den vorhin analysierten Änderungen (Dislokation, Entmaterialisation usw.) also noch einen weiteren Beobachtung hinzufügen: die Loslösung von der eigenen Person. Ist der gestalterische Ansatz bisher traditionell anthropozentrisch & -sophisch gewesen, dann müssen wir uns eingestehen: die Vorgangsweise kann jetzt nicht mehr individuell und anthropozentrisch sein, sondern sie wird eben algorithmisch sein. Die Loslösung von der eigenen Person ist im Umgang mit dem Computer sehr wichtig 7) und ermöglicht eine sehr reichhaltige Arbeitsweise (jenseits der eigenen Grenzen).

Wenn ich zu diesen Überlegungen noch die Erfahrungen, die ich mit dem Internet gemacht habe, hinzunehme gibt es weitere Aspekte, welche die bisherigen Standpunkte aufheben - sie waren zugegebenermaßen auch für mich ein ziemlicher Kick: Ich habe schon festgestellt, daß der Computer kein historisches Gedächtnis hat, weil er eben nicht wertend und nicht selektiv ist, weil digitale Daten/Zeichen keine Bedeutung haben; daher liegen im Computer die Daten ohne Hierarchie nebeneinander - bisweilen sogar in verschiedenen clusters verteilt, disloziert und dieses Faktum ist im Internet noch viel dominanter. In meinem eigenen PC wird automatisch gespeichert, oder ich speichere, was ich brauche (noch relativ geordnet). Im Internet sind Informationen haufenweise, ob man sie braucht oder nicht, über die ganze Welt verteilt und wie wir wissen, ohne Hierarchie, ohne Wertung, ohne Präferenz - der größte Blödsinn liegt komplett gleichberechtigt, neben augenblicklich Interessantem 8). Aufgrund der Datenfülle und des Phänomens, daß alles gleichberechtigt ist, kann ich die Vorstellung, daß etwas richtig oder falsch ist, nicht mehr aufrecht erhalten. Der Ansatz von Richtigkeit (z.B. Wittgenstein) ist in diesem System hinfällig 9). Hier geht es nicht mehr um eine Richtigkeit, es dreht sich vielmehr um die Zugänglichkeit von Informationen.

Der wichtige Punkt für uns Architekten dabei ist: wenn man nicht mehr davon ausgeht, daß es in der Welt in die eine Richtung oder andere Richtung eine dogmatische Richtigkeit gibt, dann hört sich auch die Rechthaberei auf. Somit können Architekten, auch wenn sie bisher darin professionell geschult gewesen sind, nicht mehr rechthaberisch sein. Und das halte ich für eine eindeutig positive Entwicklung für die Architekturszene. Bisher verstand sich jede Maßnahme des Architekten/Kreators als Verbesserung (Architekt = Weltverbesserer). Der Architekt hat traditionell die Vorstellung, daß von einem Planungsschritt, von einer Zeichnung zur nächsten Zeichnung, zur nächsten Zeichnung ... das Projekt / die Welt verbessert wird. Das ist die Grundvorstellung, von der wir ausgehen. Im Computer und beim Surfen gibt es das nicht. Es gibt verschiedene Daten/Bilder und man kann nicht sagen, das eine ist besser als das andere. Wenn wir jetzt die Richtigkeit theoretisch aufgehoben sehen, so wird die Richtigkeit durch das Kriterium Geschwindigkeit ersetzt. Das ist im Computer und im Internet ganz besonders wichtig, d.h. bevor man überhaupt entscheidet, ist etwas richtig oder falsch, sind schon längst andere Informationen vorhanden.

Eine Folge der Geschwindigkeit ist die Oberflächlichkeit: die sogenannte surface, aber vor allem im übertragenen Sinn die Oberflächlichkeit der Handlungen, wozu uns die Fuzzy Logic auch ein entsprechendes Instrumentarium liefert. Wenn der Architekt bisher immer profund und wissenschaftlich und alles ganz genau bedenken hätte sollen und bedenken wollte und alles genau machen wollte, so dreht es sich jetzt nicht mehr darum. Der aktuelle Architekt wird schnell und oberflächlich sein! Hier sehe ich den nächste große Befreiungsschritt, der für uns durch die Architektur im Internet und durch die digitale Architektur möglich wird. Die Architektur wird sozusagen nicht mehr um den Ort, um Proportionen, vorn und hinten oder oben und unten oder schön oder häßlich abhandeln, sondern die Architektur wird quick und dirty sein 10)


1) Manfred Wolff-Plottegg: Architektur Algorithmen. Hg. P. Engelmann, Wien: Passagen 1996, ISBN 3-85165-238-X
2) siehe: „Der Ort, die geschmacklose Nichtidentität, das Echo der Berge“ M. Wolff-Plottegg, Regionale Identität im wachsenden Europa — Das Fremde (LINZ 5./6. Nov. 1993), archiv-kunst-architektur Texte 1, Kunsthaus Bregenz:1997
3) Peter Eisenman: Aura und Exzeß, Wien: Passagen 1995
4) vgl. „Die Lösung des Eckproblems in der Grazer Schule“, Plottegg, Trento 1993
5) Wenn gestern der Architekt aus München Bilder von einem normalen Wohnbau (Typ Wohnbaugenossenschaft oder Studentenarbeit - die Qualität der Architektur möchte ich nicht diskutieren - ich möchte nur auf das Phänomen aufmerksam machen) zeigt und dann sagt, da ist vorn und dort ist hinten (weil das ja tatsächlich noch differenziert wird), kann ich gedanklich nicht mehr mithalten: daß dies hier bei diesem Symposium als Beispiel für Architektur im digitalen Netz verkauft wird. Das entspringt der traditionellen Raumvorstellung und nicht der Raumvorstellung vom Cyberspace, weil im Cyberspace wissen wir schon lange nicht mehr, wo oben und unten und rechts und links ist usw.
6) ua. Plottegg / Weibel: „ORTLOS - zum Diskurs der Dislokation in der Architektur“ Universität Innsbruck 1996
7) „Die Interaktion fordert die Loslösung des Planers von inhaltlichen Attitüden.“ siehe „Axiome der Interaktion“ in Das binäre Haus, Plottegg, Architekturgalerie München 1989
8) hier also werte ich.
9) bei dieser Passage war heftiges Kopfschütteln im Publikum bemerkbar.
10) siehe: Quick & Dirty, M.Wolff-Plottegg in „Jenseits von Kunst / Beyond Art“ Ausstellungskatalog, Budapest 1996, Neue Galerie Graz 1997


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