Kaum beginnen Architekten über ihre Profession nachzudenken, geraten sie in eine Krise. Das ist kein neues Phänomen: Man könnte die Geschichte der Architektur als eine Geschichte von Krisen beschreiben, die seit dem 18. Jahrhundert etwas häufiger auftreten als zuvor. Bauingenieure sind gegen dieses Phänomen vergleichsweise immun. Schlimmstenfalls leiden ihre Geschäfte unter einer schlechten Konjunktur: Vom bevorstehenden Ende ihrer Profession zu sprechen - "Apocalypse Now" lautet der Titel einer gerade erschienenen Aufsatzsammlung zur Situation des Architektenberufs - ist den Bauingenieuren aber noch nie eingefallen.
Das liegt sicher an der zweifelsfreien Nützlichkeit des Ingenieurs. Wozu Architekten wirklich gut sind, ist dagegen vergleichsweise unklar. Machen sie Häuser schöner? Oder praktischer? Von Friedrich Kiesler, jenem großen Visionär unter den Architekten des 20. Jahrhunderts, dessen Nachlaß gerade im Wiener Historischen Museum ausgestellt ist, stammt die Definition, daß der Architekt das "Überflüssige notwendig" mache. Das wäre noch verzeihlich. Aber Kiesler setzt hinzu, daß er auch "das Notwendige überflüssig macht". Braucht man sich da noch zu wundern, daß die Mehrheit des Publikums dem Architekten ein herzliches "Selber überflüssig!" entgegenruft und sich an den nächstbesten Baumeister oder Generalplaner wendet?
Man kann die gegenwärtige Situation des Architekten - wie es Alfons Flatscher vor kurzem in der Zeitschrift "Report" gemacht hat - aus dieser Perspektive analysieren: Mangel an ökonomischem Denken, geringe Kundenorientierung, zuwenig Spezialisierung. Am härtesten trifft die Kritik die Architekturschulen, die nach wie vor Generalisten ausbilden wollen, technisch versierte Künstler, womöglich noch mit sozialem und politischem Anspruch - eine zum Aussterben verurteilte Spezies. Natürlich werde kaum ein Architekt in der Praxis diesen hehren Zielen gerecht, und zum vorprogrammierten Mißerfolg komme dann noch ein schlechtes Gewissen, das unter den gegenwärtigen Marktbedingungen in blanken Zynismus umschlagen oder direkt in den Ruin führen müsse.
Bevor man die Zukunft des Architekten im spezialisierten "Dienstleister mit bauspezifischer Sachkompetenz" sieht, empfiehlt sich ein nochmaliger Blick auf das Phänomen der Krise in der Architektur. Könnte sie nicht die notwendige Folge der Differenz zwischen Architektur und Technik sein? Nach einer Definition Kants ist die technische Einheit eine empirisch gewonnene, nach zufällig sich darbietenden Absichten, die architektonische dagegen eine apriorische, nach Ideen. Architektur löst nicht einfach Probleme, sondern versucht auch, ein umgreifendes Ganzes erfahrbar zu machen, innerhalb dessen Probleme erst einen Sinn und Lösungen einen Wert bekommen. Daß sie dabei seit über 200 Jahren von einer Krise in die nächste stürzt, ist die natürliche Folge einer kulturellen Situation, in der es keine fixen Bezugssysteme mehr gibt. Für eine Architektur der Moderne gibt es keinen Weg aus der Krise. Sie kann diesen Umstand aber als Chance begreifen, sich die eigenen Fundamente permanent neu zu schaffen, vorurteilsfrei und opportunistisch, also jede sich bietende Gelegenheit nutzend.
Spezialisierung ist dafür kein taugliches Mittel. Wenn der Architekt beginnt, sich als Spezialist - etwa für "Bauformgebung" - zu begreifen, wird er bestenfalls neue Moden erfinden, in der Regel aber nur die jeweils aktuellen Schnittmuster variieren. Aber was wäre das Gegenteil des Spezialisten? Der "Homo universalis" der Renaissance? Von dem wagen Architekten heute nicht einmal mehr zu träumen. Der geniale Dilettant? Schon eher, aber diese Figur kann immer nur eine Ausnahme sein und kein Modell für eine Profession. Ein anderes - freilich gefährlich heroisches - Bild bietet sich an: der Architekt als notorischer Grenzgänger.
Manfred Wolff-Plottegg, der kürzlich den Architekturpreis des Landes Steiermark zugesprochen bekam, hat sich seit 30 Jahren als ein solcher Grenzgänger betätigt. Er hat gebaut, die Sanierung des Schlosses Trautenfels etwa oder einen Wohnbau in Seiersberg; er hat allein und in Arbeitsgemeinschaft mit Künstlern Projekte realisiert, zuletzt mit Peter Kogler eine Installation in der Grazer Galerie & Edition Artelier beim "steirischen herbst". Und er hat sich bemüht, sein Grenzgängertum theoretisch zu begründen, zuletzt in einem Buch mit dem Titel "Architektur Algorithmen", das im Passagen Verlag erschienen ist. Den steirischen Architekturpreis hat er folgerichtig für seine Arbeiten zum "erweiterten Architekturbegriff" erhalten.
"Architektur Algorithmen" ist eine Aufsatzsammlung mit einem Vorwort, das Plottegg zusammen mit Peter Weibel verfaßt hat. Hier werden einige der Grenzen angesprochen, um deren Überschreitung es geht, in erster Linie zu den Systemtheorien und zur Kunsttheorie. Hinter den hier versammelten Reizworten von Chaostheorie über genetische Algorithmen bis zu autokatalytischen Prozessen steht ein einfacher Gedanke: "Zukunft und Freiheit fordern ein offenes System."
Die Reizworte darf man getrost wieder vergessen, den Satz sollte man sich merken, weil er bei Plottegg keine Phrase ist, sondern Programm.
Wer sich durch das Vorwort durchgekämpft hat, wird mit einer Sammlung von Aufsätzen belohnt, die neben jenen von Hermann Czech zum Originellsten gehören, das in Österreich in den letzten 30 Jahren an Architekturtheorie geschrieben wurde. Die Forderung nach dem "offenen System" findet sich gleich im ersten Aufsatz aus dem Jahr 1969, ebenso die Diagnose, daß wir uns "in einer umfassenden, nicht schwerkraftgebundenen Umwelt befinden, in der die Bautätigkeit nur mehr eine Nebenerscheinung ist".
Beide Aussagen sind für die späten sechziger Jahre nichts Ungewöhnliches, aber Plottegg interessiert sich mehr für den Planungsprozeß als für die wohlmeinende Definition neuer Leitbilder. Projekte wie die "Metamorphose einer Stadtwohnung" sind als Handlungsanweisungen formuliert, wobei einfache Regeln zu äußerst komplexen Raumbildungen führen: Zuerst werden alle Möbel mit einem Tuch verdeckt, dann wird Torfmull ausgestreut und bepflanzt, schließlich werden in die freigebliebenen Wandflächen Nägel eingeschlagen.
Plotteggs Programm ist eine Revolte gegen die bürgerlichen Codes der Architektur, in denen Konsumenten wie Produzenten gefangen sind. "Die völlige Geschmacklosigkeit ist mir ein Rezept gegen die permanenten Restaurierungs-, Verbesserungs-, Verschönerungstendenzen des Architektenvereins." Wenn das repressive Moment des guten Geschmacks überwunden ist, entstehen neue Freiräume der Gestaltung: "Ob etwas ein Entwurf ist, zeigt sich am Kriterium der Grenzüberschreitung."
Mit dem Text "Hybridarchitektur" erweitert Plottegg seine Theorie um den Aspekt der Digitalisierung. Die Handlungsanweisungen werden als Algorithmen erkannt und der Computers zum Durchbrechen oder Neuinterpretieren von Codes eingesetzt. Statt von Entwurf spricht Plottegg nun lieber von Interaktion. Der Computer wird zum Partner, der Handschrift und Stil zu vermeiden hilft.
Einen ähnlichen theoretischen Ansatz vertritt auch Peter Eisenman, dessen Texte ebenfalls in der Architektur-Reihe des Passagen Verlags unter dem Titel "Aura und Exzeß" erschienen sind. Trotzdem verfolgt Eisenman ein Ziel: nämlich die "Instabilitäten und Dislozierungen zur Darstellung zu bringen, die heute Wahrheit ausmachen". Letztlich bildet Eisenmans Architektur doch wieder etwas ab, wenn auch nur eine Idee. Sie läuft damit Gefahr, zum Vorbild eines neuen "guten Geschmacks" und letztlich zu einem Stil zu werden, der eine Zeitlang die Titelblätter der Architekturjournale erobert. Als Dienstleistung für den Investor wäre diese Architektur nicht mehr als das Kunsthandwerk des Medienzeitalters.
Eine solche doch wieder abbildende Funktion der Architektur ist für Plottegg völlig absurd. Ihm geht es primär um die Öffnung des kreativen Prozesses, um die erhöhte Beweglichkeit einer "handschriftlosen, geschmacklosen, stillosen, ORTlosen Architektur". In seinen Bauten und Projekten sind die "autorlosen" Algorithmen freilich in einen nach wie vor persönlichen Entwurfsprozeß integriert.
Plottegg ist der zwangsläufige Widerspruch zur theoretisch geforderten "Autorlosigkeit" bewußt, wenn er über sein ideales Gebäude resümiert: "Ein entscheidendes intellektuelles Problem belastet mich dennoch: Dieses Gebäude würde schließlich doch an einem ORT stehen, es würde vermutlich meine Handschrift tragen, es würde so geschmacklos sein, daß es sogar mir gefallen könnte." Als Antwort bleibt Plottegg nur noch das Paradoxon: "Daher arbeite ich immer am übernächsten Projekt."
Die Gedanken Friedrich Kieslers über das Notwendige und das Überflüssige in der Architektur sind nun vielleicht besser verständlich. Wenn wir die Unterscheidung ein für alle Mal zu treffen wüßten, bräuchten wir tatsächlich keine Architektur mehr. In einem solchen geschlossenen System gäbe es weder Freiheit noch Zukunft. Architektur hat nicht zuletzt die Aufgabe, die eingefahrenen Codes, mit denen diese Trennung festgelegt wird, immer wieder zu hinterfragen. Kann es etwas Erfreulicheres geben, als das notwendig Geglaubte plötzlich als überflüssig zu erkennen?