Symposium "Paranoia und Diktatur" 22. Jänner 2000, Meerscheinschlössl Graz
Veranstalter: Universitätsklinik für Psychiatrie Graz, Univ. Prof. Dr. H.G. Zapotoczky



Referat M. Wolff-Plottegg:
"Dekonstruktion bzw. Paranoia – vom Determinismus zu einer offenen Architektur"

Obwohl ich aus meiner langjährigen Praxis referiere, werden meine Ausführungen viel mit Theorie zu tun haben, also weniger mit den alltäglichen "paranoiden" Ereignissen in der Architektur-Branche, wie zB. daß derzeit in Graz schon der 3. Kunsthauswettbewerb läuft. Die Problematik, daß Architektur zumeist der Macht dient und somit auch immer den Diktaturen (und umgekehrt) ist eine Einser-Frage der Pragmatik - dafür einzelne Beispiele anzuführen wäre unangemessen, weil es ein Faktum des Systems ist. Ich will auch weniger Definitionen geben oder Bewertungen (was in dieser Branche zB. paranoid ist) vornehmen, sondern ich werde einerseits Entwicklungströme aufzeigen, andererseits von der Produzentenseite, von der Kreativität her argumentieren.

Was mir zum Thema Architektur & Paranoia lange Zeit interessant erschienen ist, liegt irgendwie am selbstbehaupteten Grenzgängertum der Architekten, sowie in der Vorstellung von Architektur als "Mutter aller Künste" bzw. als Gesamtkunstwerk, was sich rückbezogen auf die ArchitektInnen in schweren Überbewertungen auswirkt, zur Positionierung als Demiurg führt. Das überhöht sich zusätzlich durch das Faktum, daß Architektur ins Leben eingreift, sozusagen jeden betrifft, weswegen sich auch alle permanent einmischen, besserwissen müssen, zumal Architektur gleichzeitig als Instrument der  Repräsentation, der Selbstdarstellung, Sebstverwirklichung und Macht verwendet wird. In diesem Sinn hat jeder Bauherr / Architekt diktatorische Züge. In diesem Menue rubriziert weiters die Forderung nach Singularität / Originalität, Charismatik, Handschrift, Identität udgl., also "Qualitäten", die je nach Bedarf auf das Objekt (Architektur) oder Subjekt (ArchitektInnen) angewendet werden – zur wechselweisen Auratisierung.

Zum Beleg dafür bieten sich an: jeder steirische Gartenzwerg oder Häuselbauer, Franz Gsellmann (Weltmaschine), der legendäre Terrazzoleger Simon Rodia (Watts Towers), der Briefträger Ferdinand Cheval (Palais Ideal); diese Reihe von "Architektur ohne Architekten" läßt sich natürlich auf dem professionellen Feld – Architektur soll ja ortsgebunden, "zustandsgebunden" etc. sein – fortsetzen, Günther Domenig (Steinhaus),  Adolf Loos (Projekt für eigene Grabstätte!),  international zB. Antonio Gaudi (Sagrada Famiglia), oder Boromini uä., aber auch Vitruv, Leonardo oder Haussmann, Neufert, Speer - um nur einige Richtungen in der reichhaltigen Palette zu nennen.

Diese Zusammenhängen scheinen mir eine Fundgrube für Analytiker - darüber wollte ich vor Jahren mit Freunden sogar ein Buch zusammenstellen, sozusagen eine Psychoanalyse der Architektur / ArchitektInnen – aber diese Überlegungen und Methoden basieren aus meiner heutigen Sicht doch zu stark auf traditionellen Kategorisierungen, und zwischenzeitlich scheinen mir die neueren Konzepte und Verfahren, zB. eben das der Dekonstruktion, viel aktiver, weil damit – anstelle im Nachhinein zu kommentieren – aktuelle Involviertheit genommen wird. Auch scheint keine Analyse je zur Entwicklung einer neuen Architektur beigetragen zu haben, weil Retrospektion und Derivat hemmend sind, beides Kennzeichen konservativer Planungsmethoden. Wenn Planung zukunftsorientiert offen sein soll, ist es eine Vorraussetzung die Zustandsgebundenheit, den Ausgangspunkt (1), die Argumentationsketten zu durchbrechen.

Im Buch "Architektur Algorithmen" (2) habe ich zusammen mit Peter Weibel einleitend einige Entwicklungen aufgezeigt: von den Körper- zur Maschinen- zur System(theorie)-Architektur:

Die traditionelle (Lehre der) Architektur basiert noch weitgehend auf Körper (Körpertheorie Vitruv / Leonardo): von den Maßeinheiten "Elle", "Fuß" bis herauf zu Corbusier´s Modulor; der Mensch als Maßschablone für Gebäude und allgemein subsummiert – auch im übertragenen Sinn - mit dem Ausspruch "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" (3). Auch eine der dominantesten Regeln, daß dem Bauherren / dem Architekten das Gebäude gefallen müßte - chacun a son gout – ist anthropozentrisch. (An diesem Faktum ändert auch nichts der leichte Nachweis, daß der "persönliche Geschmack" zumeist ein kollektiver ist.)

    Leonardo

Es gibt den Begriff "Baukörper", und hier ist auch der Hintergrund für die Annahme, Architektur sei "die 3. Haut" des Menschen. Es wird - nach wie vor - von Körpertheorien ausgegangen und daraus fortgesetzt geht es um den Menschen schlechthin, womit die Basis für die Anthropozentrizität der Architektur gegeben ist - vom Menschen (Hand, Hirn, Bauch des Architekten) für den Menschen gemacht, was durch die aristotelische Einheit von Zeit, Ort und Handlung nochmals betoniert wird.

Aber tatsächlich hat zuerst das Maschinenzeitalter durch die Dampflokomotive die Distanzen (den Raum) schrumpfen lassen, dann haben das Auto und die Flugzeuge dem Transport das menschliche Maß genommen; dieser Entwicklungsschritt wurde in der Architektur übergangen (es gibt praktisch keine zeitgerechte Maschinenarchitektur, und die Archigram-Ansätze aus den 1960-ern sind auch nur Papier geblieben). Und nun hat das Elektronenzeitalter, mit den neuen Medien der Information die Gegenständlichkeit genommen: in der Welt der virtuellen Realitäten sind nur mehr die Daten, nicht mehr der Körper real. Aber bei diesen Realitäten kennt sich die Architektur noch überhaupt nicht aus, will quasi noch körperbezogen, retardierend, weltfremd leben.

Andererseits sind die Architekten schon immer gegen die physikalischen (Körper-) Grenzen von Raum und Zeit angerannt, gegen das Gefängnis aus Ziegeln und Steinen, gegen die Schwerkraft und die Masse. Die Entwicklungsgeschichte der Einfriedungen von den Zyklopenmauern angefangen bis zu den heutigen quasi immateriellen elektronischen Sicherungen ist ein deutlicher Beleg dafür (4). Und was heute elektronische Medien an Möglichkeiten bieten, die Grenzen von Wänden zu überschreiten, wurde früher mit den zu Verfügung stehenden Mitteln der Zeit versucht: die perspektivische Illusions-Malerei simulierte Räume jenseits der Möglichkeiten des Architekten. Rückblickend können wir sagen, daß in der Auseinandersetzung zwischen Architektur und Wandmalerei in Kirchen und Palästen schon eine radikale Differenzierung von Präsenz und Absenz stattgefunden hatte. Palladio baute als Architekt lokale Architektur mit Präsenz, diese wurde durch die Malerei von Veronese um die Dimension einer dislokalen Architektur der Absenz ausgeweitet: Der Maler setzt sich in der Illusionsmalerei (virtuelle Architekturen und Landschaften) über körperhafte und physikalische Begrenzungen hinweg. Ging es am Anfang der Medientheorien und des elektronischen Zeitalters noch um die Ausweitung des Körpers (McLuhan) bzw. zeitgleich damit um die psychodelischen Ausweitungen der Sinne (Drogen),  geht es neuerdings um die Überwindung bzw. Loslösung.

Es gibt also nicht nur die Tendenz, sondern mittlerweile auch schon Techniken dem Gefängnis des Körpers (des Hirns, der Psyche, des Systems) zu entkommen, dem Diktat der Definitionen und Konventionen. Ich glaube, das ist auch irgendwie unser gemeinsame Thema heute: das Öffnen von Eingrenzungen, Abgrenzungen / Ausgrenzungen, also das Öffnen der Architektur, das Öffnen der Psychiatrie (5).

Nicht zuletzt beim Konzipieren von Architektur geht es (wie eben im Leben) um irgendwelche Regeln (zB. im Historismus um die Regeln eines Stils, Proportionen) und bei den diversen "*.Ismen" um deren exzessive Anwendung. Die Regeln sind vielschichtig, (hierarchisch) unterschiedlich gewichtig; neben den "rein architektonischen" Regeln (zB . Vitruv´s 2000-jährige Form/Funktion/Konstruktion, Sullivan´s Form follows function, der Postmoderne oder der Neuen Einfachheit) gibt es auch Overkill-Regeln: das derivativ-linear-seismographisch-ethische Argument einer Richtigkeit und Verbesserung.

Ich behaupte, wenn unter der Anwendung derartiger Regeln derartig idiotische / schlechte Gebäude (jeder kleine Stadtspaziergang, jede kleine Überlandfahrt zeigen diese) errichtet werden (6), wäre es doch an der Zeit, eben diese Regeln radikal auszutauschen. Und die Beobachtung des Phänomens, daß sich die Regeln im Laufe der Geschichte ohnehin ständig änderten, legt den Schluß nahe, daß die Regeln auch "willkürlich" geändert werden könnten.

Die wissenschaftlichen Entwicklungen - speziell die Dynamik des 20. Jhdts. – implizieren geradezu die Aufhebung alter Regeln und Parameter (der Architektur). Die Virtualität hebt die Regel des "Körpers" auf; die Stilkunde des 19. Jhdts., der Funktionalismus des 20. Jhdts. werden von Systemsteuerungen ersetzt – sozusagen weg vom Produkt (hardware) hin zur Metasprache der Steuerung (software); die Entwicklung "vom Determinismus zur Relativität, vom Expressionismus zum Aktionismus, vom Konstuktivismus zum Dekonstruktivismus" (7) wurde von mehreren Disziplinen vorangetragen. Die Differenz von Zeit, Ort und Handlung, die Simultaneität von Präsenz und Absenz, die Dislokation, die Neubewertung von Subjekt und Objekt als Systemvariable zählen am Beginn des 21. Jhdts. nicht mehr wie vordem zu Wahnvorstellungen, die Virtualität ist real (8), wir haben uns sozusagen emanzipiert: beam, morph, zoom!

Die Architektur ist jedoch ein derartig langsames Medium, daß sie aus der Fülle dieser Beiträge wenig bis nichts nachvollzogen hat – geschweige denn einen Beitrag dazu geleistet hätte. Planen ist nach wie vor Determinismus: heute planen was morgen gebaut wird, was möglichst lange halten soll (9); Architektur ist nach wie vor expressionistisch, (gleichgültig was) repräsentierend; sie dient dem "guten Geschmack" (dem normierten persönlichen Wunsch / der Meinung) und ist somit anthropozentrisch; indem sie funktionsgerecht (Sullivan), materialgerecht (Loos), konstuktionsgerecht, ökonomiegerecht, etc., insgesamt gerecht sein will; sie will systemgerecht sein und wirkt systemverstärkend und bleibt somit trotz aller avantgardistischen Ansprüchen konservativ.

In der Diskrepanz von Verfügbarkeit und Performance, im Steckenbleiben der Wunschbilder in längst bekannten Limesbildern scheitert die traditionelle Architektur und vermutlich auch die Psychiatrie: sie lassen sich vom normierenden Beharren terrorisieren.

Die Entwicklung der modernen Theorien, Fraktale Geometrie, Chaos Theorie, Fuzzy Logic, die Genforschung (10) etc. brachte vor allem den Wechsel von inhaltlichen (1. Ordnung) zu systemischen (2., 3. Ordnung) Vorgangsweisen mit sich, nicht zuletzt durch die Beobachtung des Instrumentariums. Es wurden also nicht nur neue Regeln erfunden, sondern die (starre) Regelhaftigkeit selbst wurde relativiert, aufgehoben, dekonstruiert (11). Die Fraktale demonstriert die Abhängigkeit vom Algorithmus und die Unabhängigkeit vom (inhaltlichen) input (Ausgangsbild, Wunschbild, Weltbild etc.) und verweist auf Limesbilder-Beschränkungen, Sierpinsky: nur die Änderung der Prozedur (nicht des Input, nicht des Inhalts) ändert.
 
 

Sierpinsky´s Dreieck 1916

Koch´sche Kurve

Merzbau 1924 / Kurt Schwitters

Im 20. Jhdt. ein wesentlicher Ansatz zur Überwindung der geschlossenen Systeme gelungen: Ich nehme als Beispiel die Auflösung der Euclid´schen Geometrie: nochmals aus der Fraktalen Geometrie, die Koch´sche Kurve, eine Verbindung zwischen zwei Punkten, die unendlich lang sein könnte. Ist gewohnterweise die Verbindung zwischen zwei Punkten eine Gerade, eine klare Linie, die diesseits und jenseits trennt, abgrenzt (bis hierher und nicht weiter!), so ist dies bei der Koch´schen Kurve (Funktion, Algorithmus) nicht mehr der Fall: ein Punkt kann je nach Iteration diesseits oder jenseits liegen, dh. auch der Standpunkt(!) ist nicht mehr klar, die Geradlinigkeit, die Demarkation ist aufgehoben, dh. von der üblicherweise eingeforderten Eindeutigkeit / Ein-eindeutigkeit zur Vieldeutigkeit; und die splines, nurbs uä. erweitern hier räumlich und ermöglichen uns – sozusagen in Fortsetzung des Kubismus - eine Raumvorstellung ohne Schuhschachteln/Schubladln: offener Grundriß, offenes Raumgefüge, Auflösung des Ortes, der Ordnung. Diese Entwicklungen sind für mich Anzeichen einer Öffnung jenseits des Determinismus.

Offene Architektur ist nicht auratischer Raum, sondern die Dimension jenseits deterministischer Planung (Verhaltensmuster). Die architektonischen Formen transportieren keine Inhalte, meinen nichts (Weltverbesserung), dienen niemandem (Macht/Diktatur). Der Diskurs der klassischen Architektur war auf Ort, Raum, Körper, Materie, Masse, Schwerkraft udgl. aufgebaut. Der Techno-Diskurs der Dislokation hat die historischen Unterscheidungen und Grenzen aufgehoben. Der Diskurs der nicht-klassischen Architektur baut auf Ortlosigkeit, immateriellen Zeichen, dynamischen Systemen, flottierenden Daten auf. Der Diskurs der Dislokation betrifft also nicht nur den physikalischen Ort, sondern auch die Dislokation der Zeichen-Wirklichkeit von der Sinnes-Wirklichkeit und die Dislokation des Visuellen vom Raum bzw. von der Anwesenheit (Präsenz). Im Zeitalter des Primats des technisch gestützten und vernetzten Sehens wird die Raumsprache der Architektur zunehmend zu einer reinen Zeichensprache und neuen Formen technisch gestützter Visibilität.

Wenn der Funktionalismus zwischenzeitlich eine klare Trennung der Funktionen forderte (CIAM), planen wir nun Überlagerungen und Änderungen von Funktionen, dh. eindeutige (starre) Spezifizierungen werden durch Systemvariable ersetzt, ähnlich wie heute die einzelnen Neuen Medien im "hypermedia" zusammenwirken. Alle diese Entwicklungen kulminieren natürlich im Internet, das prototypische Exempel für self-emerging-systems: so wie es sich herausstellt, hat es niemand ausgedacht / geplant / implantiert, dh. es ist nicht weltverbesserlich derivativ, sondern sehr sensibel, mit hoher Geschwindigkeit neue Umweltvariablen herstellend.

Wenn ich ein Manifest zur Architektur des 21. Jhdts. machen sollte, würde ich behaupten, sie wäre nicht mehr anthropozentrisch, derivativ, sondern systemisch-prozessual (nicht starr-bildhaft), quick and dirty (also nicht deterministisch und rechthaberisch), algorithmisch, autokatalytisch; und ich könnte mir vorstellen, daß ein Manifest für die Psychiatrie ähnliches fordern könnte, also keine statischen Zustandsbilder, keine "Soll"-Werte / Verhaltensmuster / Benimm-Regulative vorgebend, sondern quasi ein Instrumentarium für unser surf-Verhalten zu Verfügung stellend.

Im Laufe der Zeit habe ich in vielen Planungen mit neuartigen, "erfundenen" Regeln experimentiert, um das expressionistische Mißverständnis von Charisma, Opus und Aura kausal zu entkoppeln, um ikonografische Vorbilder zu relativieren. Dabei habe ich den "kreativen Prozeß" in einen externen Vorgang verlagert (12), also nicht mehr ich (Subjekt durch Hand, Hirn, Bauch) habe (Objekte) gesteuert. Anfänglich waren es einfache Generierungen von Formen ("Hybridarchitektur" 1981, digitaler Architektur Generator" 1985, "Analoger Architekturgenerator 1987, "Das binäre Haus" 1988), wobei die "externen" Prozesse zunehmend der Computer mit allen seinen neuen Kategorien (ua. random, morphing, scaling Modelle) aktiviert wurde. Da der Computer aber keine Bild-/Formenmaschine ist, sondern ein Prozessor (zur Simulation, Steuerung von Prozessen) wurde zunehmend "algorithmisch" konzipiert und simuliert. Die Vorstellung eines Algorithmus als Betriebssystem der Architektur überwindet auch das tradierte Paradoxon von Planungen: Plane ohne festzulegen (13) !  Architektur als Betriebssystem ist Planen auf höherem Niveau, Architektur begibt sich auf die systemtheoretische Metaebene.

Eine meiner jüngsten Arbeiten entstand in Zusammenarbeit mit Prof. Wolfgang Maass (14), der "Neuronaler Architektur Prozessor, Prototyp 1999" (15)

Diese Installation ist eine Versuchsanordnung zur Demonstration eines Prinzips und zum Beweis unserer These zur digitalen Kreativität. Das Prinzip ist die folgende Gleichung: Pulsfolgen (spike trains) in biologischen Organismen = binäre Zeichenreihen (bit strings) = Daten (Koordinaten, Vektoren) interpretierbar als Körper (solids).

Diese Gleichung verknüpft drei traditionell als wesensfremd angesehene Wirklichkeitsbereiche:

- die Welt in unserem Kopf: Informationen, Vorstellungen und Ideen, wie sie in biologischen Organismen tatsächlich kodiert sind

- die Welt der digitalen Datenverarbeitung, repräsentiert durch binäre Zeichenreihen als Vokabular der Kommunikation zwischen Computern

- die Welt der Generierung neuer Bilder / Räume / Architekturen

Diese drei Wirklichkeitsbereiche werden hier auf dem gemeinsamen Nenner der Informationsverarbeitung miteinander verknüpft. Die Installation demonstriert auf diese Weise, daß die Generierung von Bildern/Räumen/Architekturen nicht mehr anthropozentrisch / expressionistisch gesehen werden muß. Durch die Computeranwendung wird sozusagen ein Schritt der Emanzipation von althergebrachten Verhaltens-, Evaluations- und Produktionsmustern ermöglicht.

Die Installation besteht aus zwei miteinander kommunizierenden PC's, deren Output projiziert wird.

PC 1 simuliert eine Urzelle der Informationsverarbeitung in unserem Kopf: ein Neuron. Genauer gesagt: er simuliert ein einfaches mathematisches Modell für die Arbeitsweise eines Neurons in unserem Kopf. Dieses Modell wird technisch als "integrate-and-fire neuron" oder "spiking neuron" bezeichnet.

Dieses Neuronenmodell hat mit einem wirklichen Neuron gemeinsam, daß es mittels Aktionspotentialen (spikes) mit anderen Neuronen kommuniziert: zu gewissen Zeitpunkten steigt die elektrische Spannung (16) am soma des Neurons sprunghaft an (dargestellt durch Verfärbung des Neurons), um ca. eine Millisekunde später genauso plötzlich wieder abzusinken. Diese plötzlichen Spannungsänderungen werden über die vom Neuron ausgehenden Axone an andere Neurone weitergeleitet (in der Installation dargestellt durch wandernde spikes). Dabei handelt es sich um eine originelle Version eines digitalen Kodes, den die Natur in unserem Kopf verwendet: Jeder einzelne spike schaut genauso aus, es gibt also zu jedem Zeitpunkt entweder EINEN spike oder KEINEN spike - also keinen halben spike oder viertel spike.

Ein Neuron in unserem Kopf erhält als Input ebenfalls spike trains, also zeitliche Folgen von spikes, die von anderen Neuronen ausgesendet werden. Insbesondere alle Sinneseindrücke - zB. alle von uns gesehenen Gebäude - werden in die Form von spike trains kodiert, bevor sie die Neuronen in unserer Hirnrinde (kortex) erreichen. In der Versuchsanordnung bekommt das simulierte Neuron 4 spike trains als Input. Bei den spike trains 1 und 2 handelt es sich um tatsächliche spike trains, die von Hirnforschern (Krueger und Aiple) von Neuronen im Sehbereich des Gehirns von Affen aufgezeichnet wurden. (Statt von Affen könnten die Daten auch direkt von Besuchern abgenommen werden). Bei den spike trains 3 und 4 handelt es sich um Pulsfolgen (=spike trains) mittels derer der Zuschauer mit dem simulierten Neuron direkt in Kontakt tritt: durch Unterbrechen der Lichtschranke 1 (für spike train 3), bzw. durch Unterbrechen der Lichtschranke 2 (für spike train 4).

In einem biologischen Neuron haben manche der hereinkommenden spike trains eine exzitatorische Wirkung (d.h. sie erhöhen dessen Bereitschaft zu feuern), und andere eine inhibitorische Wirkung (d.h. sie hemmen seine Bereitschaft zu feuern). Dementsprechend haben in dieser Installation spike trains 1 und 3 eine exzitatorische Wirkung und spike trains 2 und 4 eine inhibitorische Wirkung auf das simulierte biologische Neuron. Das simulierte biologische Neuron verarbeitet die 4 auf das Neuron einströmenden spike trains zu einem einzigen output spike train. Dieser wird umkodiert in einen binären Kode, also in eine Folge von 1'n und 0'n (1 = 1 spike, 0 = kein spike, jeweils zu dem betreffenden Zeitpunkt), und in dieser für jeden künstlichen Rechner leicht verständlichen Form an den PC 2 weitergeleitet.

PC 2 ist ein Formprozessor, der die von PC 1 gelieferten binären Kodes zur Steuerung einer Kette von commands verwendet: mit Hilfe eines Script-Programmes werden die einströmenden spike trains sozusagen in Daten von 3-D Körpern umgewandelt und diese dann grafisch dargestellt. PC 2 interpretiert die von PC 1 gelieferten Daten zur Steuerung eines Programmes, zur Selektion und Parametrisierung der Kette der verfügbaren commands. Nicht veränderbar durch die von PC 1 gelieferten Daten sind die hardware, das mathematisch-geometrische Potential des 3D-Vektoren-Programmes und das steuernde script. Diese Invarianten prägen den erzeugten Bilder globale Muster auf, ähnlich wie die Invarianten unseres individuellen menschlichen Sehapparates und Gehirns den von uns wahrgenommen und reproduzierten Bildwelten globale Muster aufprägen, deren wir uns in der Regel nicht einmal bewusst sind. Die konkreten vom beamer projizierten Bilder sind edierte Informationen des jeweiligen Zustandes des bildererzeugenden Systems.

Man kann das Zusammenspiel von Zufälligkeiten und Gesetzmässigkeiten in der Bilderzeugung durch die beiden PC's vergleichen mit einem genetisches System. Vergleichbar einer DNA-Kette hat PC 2 eine Kette von genetischen Bausteinen (=commands), aus welchen durch den Leseraster der spike-trains die RNA als edierte Information herausgefiltert werden. Der bisherige Vorgang eines anthropozentrisch kreativen Entwurfes von Baukörpern wird – entsprechend unserer These - auf die Definition eines Genoms verlagert, welches seinerseits neue Baukörper generiert.

Das Experiment zeigt, daß relativ wenige bits, repräsentiert duch die von einem einzigen Neuron erzeugte Pulsfolge, ausreichend Komplexität besitzen, um Entwuerfe fuer vielfältige, uns manchmal sogar überraschende neue visuelle Vorstellungen zu erzeugen. Selbes gilt für die Operatoren des Scripts, welche auf einfachsten geometrischen Befehlen basieren: polyline, extrude, union, intersect, rotate etc.

Dennoch wird schon in dieser einfachen Versuchsanordnung erkennbar:

(1) schon aus wenigen Elementen / kleinen Zahlen entstehen unvorhersehbare Resultate

(2) sie liegen in einer "systeminhärenten Bandbreite"

(3) unterschiedliche bit-string-inputs (ob vom Affen, Besucher, Lichtschranken oder auch generierte Zeichenketten) ändern nichts an dieser Unvorhersehbarkeit bzw. "Systemcharakteristik"

(4) Änderungen des outputs sind durch Änderungen im "Programm" (skript) erzielbar.

Trotz der vergleichsweise geringen Komplexität des Prototyps des Neuronalen Architektur Prozessors erscheinen die daraus gewonnenen outputs differenzierter als die der bisherigen analogen Architektur-Produktion (bei gleichen Randbedingungen). Dies hat Konsequenzen für unsere Auffassung von Kunst, Architektur und menschlicher bzw. maschinell/digitaler Kreativität: es beweist unsere These, daß die Kreativität (hier Produktion von Architekturbildern) ein Produkt einer "neuronale Maschine" ist und als solche durchaus vom "Hirn" losgelöst werden kann.
 

binärer code / bit string

Neuronen

Neuronal generierte Architektur

Ich hoffe, daß ich Ihnen somit aufzeigen konnte, wie auf Grund der heutigen Entwicklungen die alten Systeme zum Glück eigentlich nicht mehr funktionieren, weswegen ich sehr optimistisch bin, daß wir á la longue aus der Welt der Diktatur des Körpers, der geschloßenen Räume (geschloßenen Anstalten) entkommen können.
 
 


*** lectures ***


Anmerkungen:
(1) siehe "Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels“, Peter Eisenman: "Aura und Exzeß – Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur“, Wien: Passagen 1995
(2) Manfred Wolff-Plottegg "Architektur Algorithmen“, Wien: Passagen 1996; im Folgenden sind einige Textstellen daraus zitiert.
(3) Albert Speer meinte, sein größter Fehler wäre es gewesen, "Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ übersehen zu haben. Hans Arp hingegen meinte, "Der Mensch ist das Maß aller Schneider“. Und jetzt werden die Chips immer kleiner!
(4) im Minimalismus / Reduktionismus sind Verweigerung, Artikulationsunvermögen etc. Sonderformen dieser Strömungen
(5) Ich erinnere mich noch an viele diesbezügliche Diskussionen Ende der 60-er und während der 70-er Jahre, mit Freunden, die für eine "alternative Psychiatrie" gestartet sind.
(6) bemerkenswert auch die Regeln für Satteldächer in Österreich: eine paranoide Bezugnahme auf den eigenen Horizont, weil auch Flachdächer in Relation zur Ekliptik geneigt sind.
(7) siehe Jenseits von Kunst, Peter Weibel, Ausstellung und Katalog (Passagen Wien 1996)
(8) vgl. Zeichenbau / real virtualities: Ausstellung Künstlerhaus Wien 1999, Kurator Plottegg
(9) Hier wird auch klar, warum gerade die Architektur in allen diktatorischen Systemen ein beliebtes Instrument ist: Determinismus will Dauerhaftigkeit der Architektur = Überleben des Systems; die Monumentalität=Logo des Überdauerns, bedient sich dabei ua. der Materialsprache (Stein, Stahl, Titan...) und der primitivsten Geometrien (Zentralperspektive, Symmetrie), kurzum der größten gestalterischen Platitüden, neuerdings auch der high-tec Ästetisierung.
(10) Die Entschlüsselung des Genoms ("Caenorhabditis elegans" 1998) gibt Anlaß zur Relativierung der "persönlichen Performance", sozusagen der Kreativität, wofür schon vielfältige Vorläufer (W.A.Mozart´s aleatorische Komposition opus KV 516f, Kozens´ Landschaftsmalerei, Dadaismus, Surrealismus, Pataphysik udgl.) exemplarisch sind.
(11) In diesem Sinn war für mich die Dekonstruktion nie eine Form oder Stilrichtung, sondern eben die Dekonstruktion der überkommenen Regeln (Virtuv etc.); Die Dekonstruktion von Regeln verstehe ich also als Algorithmus, was uU. eine contradictio in se wäre, was aber durch die Verschiebung in ein System höherer Ordnung möglich ist.
(12) nicht nur aus Faulheit, sondern hauptsächlich um den persönlichen Limesbildern zu entkommen.
(13) Wenn auf diese Weise der Weg in die Zukunft von deterministischen Konzepten befreit wird, gibt es keinen Grund mehr die Vergangenheit als Quelle für Derivate zu verwenden, und die Vergangenheit als Festlegung der Zukunft zu verstehen, der Determinismus ist nicht mehr Planungsgrundlage.
(14) o.Univ.-Prof.Dr.Wolfgang Maass / Institut für Grundlagen der Informationsverarbeitung Technische Universität Graz
(15) Wolfgang Maass / Manfred Wolff-Plottegg; Programmierung: Harry Fuchs / Andreas Gruber Graz, erstmals gezeigt bei real virtualities: Ausstellung Künstlerhaus Wien 1999; Prof. Maass zeigte anläßlich der Landesausstellung 2000 in Graz eine weiterentwickelte Version der spike trains.
(16) An dieser Stelle sei mir eine kritische Anmerkung zum Thema "Unangemessenheit der Mittel“ – eines der Standard-Themen der Architekten - erlaubt: angesichts der feinsten Hirnströme in den neuronalen Schaltungen scheinen mir die Stromstöße bei der Elektro-Krampf-Therapie unsensibel groß. Es scheint die übliche Praxis zu sein - je entmaterialisierter (unsichtbarer) desto aggressiver; siehe Stacheldraht, siehe Psychopharmaka. Vermutlich hängt dies aber mit unserer visuellen Prägung zusammen: nur das Sichtbare ist real, nur etwas Sichtbares kann stören; die EKT und Psychopharmaka sind visuell sauber!